Softwarebasierte Fluchtwegsimulation für eine sichere Evakuierung

Heute simulieren, was morgen wichtig ist

Softwarebasierte Fluchtwegsimulation für eine sichere Evakuierung

Die Digitalisierung macht auch vor der Sicherheitsbranche nicht halt und verändert etablierte

Sicherheitskonzepte. Neue Lösungen werden mithilfe von Simulationen erstellt, um betriebliche und behördliche Prozesse zu vereinfachen und zu beschleunigen. Dabei stehen der Schutz von Personen sowie die praxisnahe Funktionalität zu jeder Zeit im Fokus. Wie neue Fluchtwegsimulations- und Evakuierungskonzepte dabei helfen können, wird in diesem Beitrag aufgezeigt.

Auch wenn sich die Welt heute schneller zu drehen scheint als noch vor einigen Jahren – das Ziel von sicherheitstechnischen Konzepten ist immer noch dasselbe: der zuverlässige Schutz von Personen, Sachwerten und Prozessen. Bei einer Evakuierung geht es in erster Linie um den Schutz von Personen und damit einhergehend um die Frage, wie sie das Gebäude schnellstmöglich und sicher verlassen können.

In der Vergangenheit wurden Gebäude geplant, ohne dabei die Evakuierungsszenarien vollständig zu überblicken. Die Auslegung der Türen und Flure wurden über Tabellen und die dazugehörigen Richtlinien geplant, von den Behörden genehmigt und anschließend erstellt. So konnte häufig erst im Betrieb ein möglicher Engpass identifiziert werden, welcher sich zu einer gefährlichen Situation entwickeln konnte. Des Weiteren war es oft schwierig, verschiedene Raumbelegungsszenarien für eine mögliche Evakuierung miteinander zu vergleichen, wodurch dies häufig zu wenig Beachtung erhielt.

Mit Blick auf eine Evakuierung ist die Zeit das A und O. Für einen Sicherheitsbeauftragten ist es enorm wichtig zu wissen, wieviel Zeit benötigt wird, bis sämtliche Personen einen gefährdeten Bereich verlassen haben. Nur so kann ein Evakuierungsplan erstellt werden. Dazu zählt auch die Kenntnis des effizientesten Fluchtwegs heraus und herein – beispielsweise für Rettungskräfte. Um diese Anforderungen zu erfüllen, kann man sich einer Evakuierungssimulation bedienen.

 

Digitalisierung optimiert Evakuierung

Basierend auf den vom Planer oder Architekten zur Verfügung gestellten digitalen Planunterlagen wird ein 3D-Gebäudemodell von der Evakuierungssoftware eingelesen. In dieses fügt man Einzelpersonen und Gruppen so in das virtuelle Gebäude ein, wie sie sich typischerweise im Gebäude aufhalten und bewegen. So wird der Evakuierungsablauf digital simuliert und visualisiert. Die Software errechnet die möglichen Fluchtwege und zeigt diese zusammen mit dem zu erwartenden Personenaufkommen und den kalkulierten Räumungszeiten auf. Dabei wird auch berücksichtigt, dass sich einzelne Personen möglicherweise entgegen der Fluchtrichtung der Personenmenge bewegen. Dies können beispielsweise Rettungskräfte sein, die zum Brandherd vordringen müssen.

Bereits während der Planung eines Gebäudes lassen sich die Punkte ermitteln, an denen gefährliche Situationen entstehen können. Diese Engpässe können durch geeignete bauliche Maßnahmen präventiv entschärft werden – und das schon vor Baubeginn. So können Zeit und nachträgliche Umbaukosten gespart werden. Mit den Erkenntnissen aus der Simulation lassen sich bestehende Sicherheitssysteme optimieren. Auch bei geplanten Umbauten oder bei einer Umnutzung von Gebäuden kann die Simulationssoftware zum Einsatz kommen. Bestehende Nwotfallkonzepte werden überprüft und durch eine schnelle Übernahme der durchgeführten Änderungen sinnvoll validiert.

 

Entfluchtung in Echtzeit planbar dank Simulator

Nach dem Aufbau der Simulation werden die Modellparameter entsprechend der aktuellen Situation kalibriert, sodass sie die realen Zustände im Gebäude widerspiegeln. Nun lassen sich unterschiedliche Belegungsszenarien (z.B. halb-volles versus volles Gebäude) analysieren. Diese simulierten Belegungsszenarien laufen in der Software 10-mal schneller als in Echtzeit: so kann viel Zeit eingespart werden. Die visuelle Darstellung der Ergebnisse erfolgt in 2D und 3D. Die Erstellung eines 3D-Modells basiert auf den CAD-Daten, welche durch eine IFC-Schnittstelle aus einem BIM-Datenmodell übernommen werden. Die Nutzung von Gebäudedaten ermöglicht die Optimierung von Fluchtwegen unter Berücksichtigung verschiedener Situationen. Damit lassen sich auch Notfallkonzepte erstellen und validieren. Bei der Erstellung eines Neubaus kann unter Einbeziehung von Staus, Hindernissen und Gefahrenquellen eine dynamische Wegeplanung berücksichtigt sowie ein Soll-Ist-Vergleich für geplante Umbauten im Bestandsschutz durchgeführt werden.

Die Simulation zeichnet sich dadurch aus, dass sie realistische Modelle darstellen kann, in denen eingebunden wird, wie sich Personen im Raum bewegen. Dabei können auch reale Parameter einbezogen werden, wie z.B. Personen mit Handicap, spezielle Gruppenverhalten (z. B. Familien), aber auch die reduzierte Geschwindigkeit in Treppenhäusern. Um die Vertrauenswürdigkeit der Simulationen zu testen, werden regelmäßig funktionale Tests zur Validierung der Software (z.B. Richtlinie für Mikroskopische Entfluchtungs-Analysen, kurz: RiMEA e.V) anhand von verschiedenen Evakuierungssituationen durchgeführt. Wichtig zu beachten und zu bedenken ist: Das Verhalten von Personen ist im Schulungsfall anders als im Ernstfall. Deshalb können wichtige Punkte, wie Überlebensstress, im Schulungsfall (z.B. bei einem Probealarm) nicht real nachgestellt werden. Sehr wohl lässt sich dies jedoch in einem digitalen Modell mit unterschiedlichen Eventualitäten und Parametern simulieren.

 

Gebäudetechnik hilft bei

Evakuierung

Die Digitalisierung des Gebäudes macht die Entfluchtung in Echtzeit transparent und damit planbar. Die Evakuierungssoftware greift dafür auf Gebäudemanagement- und Intelligent-Response-Systeme zu, die dynamisch auf Gefahrensituationen reagieren und die Personen aus der Gefahrenzone leiten können.

Auf Basis der gebündelten Echtzeit-Informationen berechnet die Software dynamisch die besten Evakuierungswege und überträgt diese in das Gebäudemanagement. So berücksichtigt das Programm automatisch, welche alternativen Wege genutzt werden können, wenn ein Fluchtweg plötzlich blockiert ist. Perspektivisch können auch die Information der Gebäudenutzer im Gefahrenbereich und die Steuerung der Personenströme aus dem Gebäudemanagementsystem erfolgen, nämlich durch integrierte Fluchtweglenkungssysteme, gestützt durch situationsspezifisch definierte Sprachdurchsagen und dynamische Anzeigen. Das oberste Ziel dabei ist die „Selbstrettung“: den Personen zu ermöglichen, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Dabei spielt auch die frühzeitige Detektion eine wesentliche Rolle. Denn je früher eine Gefahrensituation erkannt wird, desto mehr Zeit bleibt in vielen Fällen für die Rettung.

 

Gründe für eine Alarmierung und Evakuierung

Wenn ein Gebäude geräumt oder evakuiert werden muss, sind die Ursachen leider vielfältig – vom Probealarm über im Umfeld geplante Arbeiten, die zu einer Gefährdung werden könnten, bis hin zu einem Brand- oder anderen Gefahrenszenario gibt es verschiedenste Ausgangssituationen. Jedes dieser Ereignisse hat einen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten der Personen, die sich im Gebäude befinden. Spricht man von einer Räumung handelt es sich um eine entspannte Situation, während bei einer Evakuierung eine unmittelbare Gefährdung vorliegt. Für jeden der Anwendungsfälle kann das Simulationsprogramm angepasst werden, um für jeden Use-Case die richtige Antwort zu erhalten.

 

Ein Beispiel aus der Praxis

Die Software ist ein Werkzeug des Beraters, um dem Bedarfsträger hilfreich zur Seite zu stehen. Ein dafür geeignetes Tool ist beispielsweise die Evakuierungssoftware „CrowdControl“ von Siemens. Um Projekte erfolgreich durchführen zu können, bietet das Unternehmen Beratung bei Neubau- und Bestandsprojekten in Form von Workshops an. Diese setzen sich aus der inhaltlichen Abklärung des Vorhabens und der Unterstützung bei der Erstellung der notwendigen Use-Cases zusammen. Die Prüfung auf Machbarkeit sei ebenfalls ein essenzieller Bestandteil, der vor Projektbeginn erfüllt werden muss. Dies geschehe vor dem Beginn der Durchführung der Simulationen, der Erstellung der Berechnungsmodelle sowie deren visueller Dokumentation.

Auf einem 22 Meter hohen Dach einer Produktions- und Logistikhalle mit 40.000 Quadratmetern befindet sich ein 4.300 Quadratmeter großer Veranstaltungsraum, der bei Versammlungen mit bis zu 5.000 Personen belegt werden kann.

Der Architekt des Gebäudes musste hier mit Fluchtsimulationen belegen, dass seine Baupläne alle Sicherheitsanforderungen erfüllen und der Raum im Notfall schnell geräumt werden kann. Auf Basis des elektronisch vorliegenden Gebäudeplanes wurde ein digitaler Zwilling insbesondere des Versammlungssaals erstellt und mehrere Szenarien simuliert: ein Normalszenario mit der Räumung bei einer zweigeteilten Nutzung des Raumes, mit je 1.000 Personen und unterschiedlichen Bestuhlungsvarianten pro Raumabschnitt, sowie ein Sonderszenario mit der Räumung einer Versammlung mit 5.000 Personen.

Bei der Planung wurde Siemens bereits früh in die Planungsphase des Bauvorhabens eingebunden. So konnten die Architekten bei der baulichen Ausgestaltung der Fluchtwege unterstützt werden. Das betraf beispielsweise konkret die Anzahl der Treppenhäuser sowie die Nutzungsabfolge des Aufzugs, der für die Evakuierung der Rollstuhlfahrer vorgesehen ist. Eine Simulation bietet die Möglichkeit, den Fluchtablauf wie mit einer Überwachungskamera verfolgen zu können. So wird die Machbarkeit der Evakuierungsplanung aufgezeigt und letztendlich optimal gestaltet.

Normen sind dabei nur der kleinste gemeinsame Nenner, mit denen Planer und Architekten eine Baugenehmigung erhalten und mit der Planung auf der sicheren Seite sind. Die beabsichtigte Planung von großen individuellen Gebäuden kann aber schnell an Normen scheitern. Simulationen sind in diesem Fall in der Lage, Lösungen aufzuzeigen und diese verständlich zu visualisieren, sodass auch komplexe Anforderungen nachvollzieh- und überprüfbar durch Normen abgedeckt werden.

 

Fazit und Ausblick

Die Simulation von Situationen ist heute in vielen Bereichen schon nicht mehr wegzudenken. Ähnlich ist das auch in der Gebäudetechnik. Mithilfe von Simulationen könnten bestehende Evakuierungspläne einer erneuten Prüfung unterzogen werden. Die Optimierung dieser Pläne kann durch direkte Übernahme von Planungsänderungen erfolgen. Somit könnte eine Überprüfung der Evakuierungspläne alle zwei bis drei Jahre erfolgen und ihre Aktualität gewährleistet werden. Die Grundlage der Simulation kann für Schulungszwecke von Security-Mitarbeitenden und Evakuierungs-, Brandschutz- und Ersthelfenden genutzt und für weitere Arbeitsschutzmaßnahmen herangezogen werden. Das ermöglicht eine proaktive Herangehensweise auf die jeweilige Situation. Der digitale Gebäudezwilling unterstützt so über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes hinweg.

Zukünftig könnte durch die Verbauung von Sensorik die Sicherheits-Software mit einem Gefahrenleitsystem verknüpft werden: Daten würden abgeben und auch empfangen werden. Damit könnten dynamisch die sichersten Evakuierungswege in Echtzeit ermittelt und die Personen der Situation entsprechend geleitet, wie auch ad hoc durch Sprachansagen beispielsweise umgeleitet werden. Zudem kann eine zusätzliche Alarmierung und Lenkung mithilfe von Tablets oder Smartphones mit Bluetooth Low Energy (BLE) basierendem Indoor-Ortungssystem erfolgen.

Eine softwarebasierte Simulation vor dem eigentlichen Baubeginn gewährleistet nicht nur hohe Sicherheitsstandards, sondern auch wesentliche Zeit- und Kosteneinsparungen. Deshalb ist anzunehmen, dass die Bedeutung von virtuellen Medien im Bereich Sicherheitstechnik in den kommenden Jahren noch weiter zunehmen wird. Mithilfe der Simulationssoftware und der daraus resultierenden Dienstleistung werden bestehende und bewährte Konzepte digital aufgewertet. Ein wichtiger Effekt: Die höhere betriebliche Effizienz sichert und stärkt das Vertrauen bei Mitarbeitenden und Investoren.

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