Dynamische Fluchtweglenkung
Bei Umbauten, Nutzungsänderungen und in denkmalgeschützten Gebäuden gehören Abweichungen von den bauordnungsrechtlichen Vorgaben und deren Kompensation zum planerischen Alltag. Mit einer Dynamischen Fluchtweglenkung lassen sich die geforderten Schutzziele auch ohne bauliche Veränderungen erfüllen.
Der Gesetzgeber ist sich dieses Umstandes bewusst und lässt deshalb in § 67 Musterbauordnung (MBO) – nach Landesrecht – ausdrücklich Abweichungen von den bauordnungsrechtlichen Vorgaben zu. Von den Technischen Baubestimmungen kann gemäß § 85a MBO abgewichen werden, „wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die Anforderungen erfüllt werden und in der Technischen Baubestimmung eine Abweichung nicht ausgeschlossen ist.“ Voraussetzung für die Genehmigung von Abweichungen ist die Erfüllung der maßgeblichen bauaufsichtlichen Schutzziele, zum Beispiel der allgemeinen Anforderungen an Gebäude nach § 3 MBO und der Brandschutzanforderungen nach § 14 MBO.
Abweichungen erfordern dazu im Regelfall bauliche, organisatorische oder anlagentechnische Kompensationsmaßnahmen sowie eine Risikobewertung im Hinblick auf die bauaufsichtlichen Schutzziele. Sie sind ausführlich zu begründen, beispielsweise nach der folgenden Struktur (siehe z. B. Brandschutzleitfaden des BMI):
Feststellung der Abweichung,
Benennung des maßgeblichen Schutzzieles,
Risikobetrachtung,
Auswahl der Kompensationsmaßnahme.
Die Gründe für Abweichungen sind vor allem im Gebäudebestand vielfältig. So können bei An- und Umbauten neue Brandschutzanforderungen mit der bestehenden Bausubstanz häufig nicht erfüllt werden. Oder der „Bestandsschutz“ fällt nach Sanierungen weg und eine Vielzahl aktueller Brandschutzvorschriften muss berücksichtigt werden. In denkmalgeschützten Gebäuden sind die für Standardgebäude bauordnungsrechtlich vorgesehenen Brandschutzmaßnahmen oft gar nicht umsetzbar, wenn sie mit dem Denkmalschutz kollidieren. Ebenfalls häufig anzutreffen sind Abweichungen nach Nutzungsänderungen, beispielsweise beim Umbau von Wohnungen in Gewerbeeinheiten. Die MBO verweist in § 3 ausdrücklich auf die Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Schutzziele auch bei Nutzungsänderungen.
Abweichungen bei Flucht- und Rettungswegen
In der Praxis häufig anzutreffen sind Abweichungen von den Vorschriften zu Flucht- und Rettungswegen wie beispielsweise das Fehlen des zweiten Rettungsweges oder die Überschreitung der maximal zulässigen Rettungsweglänge. Allerdings sind bauliche Änderungen oft nicht möglich oder nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand zu realisieren. Dann sind anlagentechnische oder organisatorische Maßnahmen zur Kompensation eine Alternative. Besonders gut geeignet sind Dynamische Fluchtweglenkungssysteme, die meist als Teil einer ohnehin geforderten Sicherheitsbeleuchtung realisiert werden können. Sie verkürzen mit geringem Aufwand die benötigte Zeit zur Selbstrettung und unterstützen die Fremdrettung. So kann beispielsweise das Schutzziel „Selbstrettung der Gebäudenutzer vor Eintreffen der Feuerwehr“ trotz Überschreiten der zulässigen Rettungsweglängen erfüllt werden.
Dynamische Fluchtweglenkung
Eine dynamische Fluchtweglenkung mit richtungsveränderlichen Rettungszeichen ist z.B. mit einer Brandmeldeanlage (BMA) oder einer Gefahrenwarnanlage (GWA) gekoppelt. Sobald ein Melder eines Rauch- oder Brandabschnitts auslöst, wird der betroffene Bereich durch das dynamische Fluchtweglenkungssystem optisch gesperrt und von ihm weg- bzw. um ihn herumgeleitet. Aus dem Gefahrenbereich selbst wird auf kürzestem Wege heraus geleitet. Je nach Schutzziel können zusätzlich niedrigmontierte Rettungszeichen und bodennahe Leitmarkierungen ergänzt werden, die auch bei einer Verrauchung eine Orientierung erlauben. Für eine Dynamische Fluchtweglenkung zwingend notwendig sind sie nicht. Dynamische TFT-Leuchten lassen sich besonders flexibel einsetzen. Sie zeigen Rettungszeichen mit beliebigen Richtungsangaben und Sperrsymbolen sowie gängige Rettungs- und Brandschutzzeichen an, aber auch selbst erstellte Piktogramme. Damit ist das getrennte Ausschildern des 1. und 2. Rettungswegs für Menschen mit Behinderungen möglich, z.B. durch alternierende Piktogramme.
Wirtschaftlicher Brandschutz
Moderne Sicherheitsbeleuchtungssysteme erlauben die Stromversorgung und die Ansteuerung statischer und dynamischer Rettungszeichen- bzw. Sicherheitsleuchten auf einem gemeinsamen Endstromkreis. Der Aufbau einer Dynamischen Fluchtweglenkung beschränkt sich dann auf den Austausch der statischen Rettungswegkennzeichen gegen dynamische und die Programmierung der Brandszenarien im zentralen Steuerteil der Sicherheitsbeleuchtung sowie die Anbindung an die BMA bzw. GWA. Eine Änderung der bestehenden Verkabelung ist nicht notwendig. Damit werden in vielen Fällen die Schutzziele auf besonders wirtschaftliche Weise erreicht.
So werden bei Abweichungen von der zugelassenen Rettungsweglänge bzw. bei Fehlen des zweiten Rettungsweges aufwändige bauliche Maßnahmen überflüssig (Projektbeispiel 1). In denkmalgeschützten Gebäuden sind diese häufig gar nicht möglich, sodass eine Dynamische Fluchtweglenkung oft einen gangbaren Ausweg darstellt (Projektbeispiel 2). Ebenso können Nutzungsänderungen – dauerhaft oder temporär – und An- bzw. Umbauten zu anderen Anforderungen an Rettungswege führen, die beim Verzicht auf bauliche Änderungen kompensiert werden müssen (Projektbeispiel 3). Um gegen Überraschungen während der Nutzungsdauer des Gebäudes gewappnet zu sein, empfiehlt sich bereits bei Neubauten der Einbau eines modernen Sicherheitsbeleuchtungssystems nach heutigem Stand der Technik, das die Funktion einer dynamischen Fluchtweglenkung bereits beinhaltet. Aber auch ohne bauliche Abweichungen kann eine Dynamische Fluchtweglenkung eine wirtschaftliche Alternative darstellen, beispielsweise wenn auf die Installation einer Sprachalarmanlage verzichtet werden kann (Projektbeispiel 2).
Mehr Sicherheit
Eine Dynamische Fluchtweglenkung führt im Brandfall auch insgesamt zu mehr Sicherheit. Normativ sind Sicherheitsbeleuchtungsanlagen in erster Linie für den Betrieb beim Ausfall der Allgemeinbeleuchtung konzipiert. Sie erfüllen jedoch auch im Brandfall wichtige Aufgaben. Die normativ geforderte statische Rettungswegkennzeichnung weist dabei von jedem Punkt im Gebäude genau einen vorher festgelegten Fluchtweg aus. Bauaufsichtlich wird davon ausgegangen, dass der kürzeste Fluchtweg der maßgebliche ist und im Gefahrenfall begehbar bleibt. Das ist jedoch häufig nicht der Fall. Brennt es im statisch ausgeschilderten Rettungsweg, müssen Gebäudenutzer selbst eine sichere Alternative suchen – und das „blind“ ohne zusätzliche Hinweise. Eine Dynamische Fluchtweglenkung steuert in diesem Fall automatisch um und schildert einen alternativen Fluchtweg aus.
Fazit und Ausblick
Dynamische Fluchtweglenkungssysteme erlauben eine sichere und wirtschaftliche Kompensation bei Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Vorgaben. Gleichzeitig sorgen sie im gesamten Gebäude für mehr Sicherheit im Brandfall. In historischen Gebäuden sind sie häufig die einzige Möglichkeit, bauordnungsrechtliche und denkmalschützerische Anforderungen unter einen Hut zu bringen. Mit der Ende 2018 erschienenen Vornorm DIN VDE V 0108-200 „Elektrisch betriebene optische Sicherheitsleitsysteme“ erhalten Fachplaner und Errichter umfangreiche Unterstützung bei der Realisierung einer Dynamischen Fluchtweglenkung.
Im neuen „Leitfaden Dynamische Fluchtweglenkung D.E.R.“ von Inotec Sicherheitstechnik werden einige Projektbeispiele ausführlich beschrieben. Dieser kann unter inot.ec/leitfaden angefordert werden.
Literatur
Musterbauordnung MBO. Fassung November 2002, zuletzt geändert durch Beschluss der Bauministerkonferenz vom 27.09.2019.
Brandschutzleitfaden [online]. In: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Kurzlink: https://bit.ly/3717FYi
DIN VDE V 0108-200 VDE V 0108-200:2018-12 Sicherheitsbeleuchtungsanlagen Teil 200: Elektrisch betriebene optische Sicherheitsleitsysteme.
Projektbeispiel 1: Nutzungsänderung nach Umbau
Beim Umbau einer Fahrradwerkstatt zur Behindertenwerkstatt mit E-Recycling war eine Sicherheitsbeleuchtung und eine Brandmeldeanlage (BMA) gefordert. Wegen erhöhter Brandlasten und dem Fehlen eines notwendigen Flures gestaltete sich die Fluchtwegführung aus dem Sozialraum schwierig. Durch eine Fluchtweglenkung mit nur fünf dynamischen Rettungszeichenleuchten konnte auf den Bau einer zusätzlichen Notausgangstür mit Rollstuhlrampe verzichtet werden. Die baulichen Einsparungen gegenüber der ursprünglichen Planung betrugen ca. 8.500 €, während die Mehrkosten bei Sicherheitsbeleuchtung und BMA lediglich 800 € betrugen.
Projektbeispiel 2: Brandschutz in Gedenkstätte Bautzen
In der Gedenkstätte Bautzen sind zum Erhalt der beklemmenden Atmosphäre so gut wie keine Eingriffe in die historische Bausubstanz zugelassen. Im Zuge einer Sanierung sah das Brandschutzkonzept allerdings eine Sprachalarmierungsanlage (SAA) mit zahlreichen sichtbaren Lautsprechern im historischen Zellenhaupttrakt vor, die den Charakter des Denkmals zerstört hätten. Mit dem Einbau einer Dynamischen Fluchtweglenkung (DFL) statt einer SAA wird das Schutzziel „Selbstrettung der überwiegend ortsunkundigen Besucher“ genauso erreicht. Für die Realisierung mussten lediglich die vorhandenen statischen Rettungswegkennzeichnen gegen dynamische ausgetauscht werden. Durch die DFL konnte auch der Bau einer zweiten Außentreppe vermieden werden.
Projektbeispiel 3:
Temporäre Nutzungsänderungen
Multifunktionale Gebäude werden immer häufiger tageszeitabhängig unterschiedlich genutzt. So läuft in Schulen tagsüber der normale Schulbetrieb, während abends die Aula für Veranstaltungen und der Anbau durch die Volkshochschule genutzt werden. Dadurch ändert sich die Fluchtwegführung, da schulinterne Bereiche abends für Schulfremde gesperrt und abgeschlossen sind. Durch eine Dynamische Fluchtweglenkung mit TFT-Displays wird abends automatisch um diese Bereiche herumgeleitet und Veranstaltungsteilnehmer finden schnell einen Weg nach draußen.