Räumungen von Wohnhochhäusern aus Gründen des Brandschutzes
In der jüngeren Vergangenheit waren mehrere Fälle der Räumung von Wohnhochhäusern Gegenstand nicht nur der fachmedialen Berichterstattung. Der spektakuläre Aspekt war dabei vor allem, dass es sich um teilweise Jahrzehnte lang bewohnte Wohnungen handelte, die quasi „von jetzt auf gleich“ geräumt wurden – mit allen negativen Konsequenzen für die Bewohner.
Mehrfach führten dabei entdeckte Brandschutzmängel – die stellenweise schon seit der Errichtung vorlagen – dazu, dass die betreffenden Gebäude unverzüglich geräumt wurden. In verwaltungsrechtlicher Hinsicht bedeutet dies, dass die zuständige Untere Bauaufsichtsbehörde eine Ordnungsverfügung in Form einer sofortigen Nutzungsuntersagung zur Ausübung der Wohnnutzung an den Eigentümer des Gebäudes zustellt und parallel dazu die Mieter des Gebäudes mit einer sogenannten „Duldungsverfügung“ im Hinblick auf die Nutzungsuntersagung belegt werden.
Faktisch dagegen bedeutet dies nichts anderes, als dass die Bewohner sofort ausziehen müssen und dort ggf. sogar nicht noch einmal eine weitere Nacht verbracht werden darf. Die damit einhergehenden Maßnahmen wiederum gehen von zu beschaffendem Ersatzwohnraum, Umzugsmaßnahmen, Sicherungsmaßnahmen, psychische und physische Unterstützung für die Bewohner, bis hin zur Unterbringung von Haustieren und letztlich erheblicher damit einhergehender Kosten bis hin zu massiven Problemen im Einzelfall, die eine sofortige Aufgabe der bisher seit Jahrzehnten ausgeübten Wohnnutzung mit sich bringen kann. Gerade die hieraus resultierende Belastung für die Bewohner führt dann nicht selten zu der gestellten Frage, ob entsprechende Maßnahmen berechtigt sind. Hier soll die zu Grunde liegende Rechtslage bei derartigen Situationen sowie die einschlägige Rechtsprechung betrachtet werden.
Rechtliche Grundlage einer sofortigen Nutzungsuntersagung bzw. Räumung
Vorausgesetzt, dass es sich bei dem betroffenen Gebäude um einen legalen Bestandsbau handelt, der dem hieraus resultierenden Bestandschutz unterliegt, verlangt die Rechtmäßigkeit einer bauaufsichtlichen Ordnungsverfügung – beispielsweise in Form einer sofortigen Nutzungsuntersagung – stets, dass eine konkrete Gefahr im Einzelfall gegeben ist.
Dieser rechtliche Begriff wird häufig missverstanden, was mit Sicherheit auch daran liegt, dass eine gesetzliche Definition in konkreter und anwendbarer Form nicht existiert. Vereinfacht ausgedrückt ist damit gemeint, dass in Bezug auf einen konkreten Sachverhalt (also nicht nur rein generell, sondern anlässlich eines tatsächlichen zur Beurteilung vorliegenden Falles) die gegebenen Umstände zu der objektiven Einschätzung führen, dass deshalb jederzeit die Gefahr besteht, dass Personen geschädigt werden, sofern sich an der Situation nicht sofort etwas zur Beseitigung der Gefahr ändert.
Auf der dogmatisch-rechtlichen Seite zeigen die von den Verwaltungsgerichten entwickelten vorherrschenden Definitionen leider nicht nur, dass eine allgemeingültige juristische Formel, die auf sämtliche denkbaren Sachverhalte passt, in konkreter Form nicht möglich ist. Die Gerichte sind sich – je nach Bundesland – überdies auch noch uneins, was die maßgeblichen Bewertungskriterien angeht. Dies zeigt sich, wenn man die betreffende Rechtsprechung einmal näher betrachtet.
Der Begriff der konkreten Gefahr in der Rechtsprechung
Eine der herrschenden juristischen Formeln zur Beschreibung einer konkreten Gefahr als tatbestandliche Voraussetzung einer Ordnungsverfügung lautet sinngemäß, dass aufgrund der Umstände des Einzelfalls eine hinreichende Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, dass es bei ungehindertem Verlauf aus Sicht eines sachkundigen, fähigen und besonnenen Beamten zu einem erheblichen Schaden kommt. Der wesentliche „Knackpunkt“ ist daher gemäß dieser Definition, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für einen erheblichen Schadenseintritt gegeben sein muss.
Die rechtliche Sicht des Verwaltungsgerichtshofes Kassel in Bezug auf die bauordnungsrechtliche Bewertung in Hessen ist dagegen restriktiver: Nach Ansicht des VGH Kassel reicht es bereits aus, wenn nicht erst eine „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ gegeben ist, sondern die konkreten Sachverhaltsumstände es bereits „nicht ganz unwahrscheinlich“ erscheinen lassen, dass es zu einem Schaden kommt.
Dieses etwas hilflos erscheinende Spiel mit den sprachlichen Definitionen zeigt die grundsätzliche Schwäche der Juristerei dahingehend, dass mit den Mitteln der Sprache leider keine mathematische eindeutige Formel vergleichbar den Naturwissenschaften aufgestellt werden kann.
Allerdings wird deutlich, dass gemäß der Besprechung des hessischen Verwaltungsgerichtshofs die Grenze der Annahme einer konkreten Gefahr im Zweifelsfall niedriger anzusetzen ist, als dies im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit anzunehmen wäre.
Für die Praxis bedeutet dies, dass dies in aller Regel allein kraft der subjektiven Einschätzung des betroffenen Verantwortlichen (beispielsweise des Sachbearbeiters einer unteren Bauaufsichtsbehörde, der den Sachverhalt zu beurteilen hat) dazu führt, dass dieser im Zweifelsfalle eher davon ausgeht, dass aufgrund bestimmter gefährlich erscheinender Umstände eine konkrete Gefahr vorliegt, als dass dies nicht der Fall ist.
Mögliche Rechtsfolgen
Rechtsfolge der Annahme einer konkreten Gefahr ist stets, dass die Behörde im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ermächtigt ist, das Notwendige zu fordern, um die konkrete Gefahr zumindest interimshalber zu beseitigen.
Hierbei kommen grundsätzlich alle denkbaren Möglichkeiten in Betracht, die zur Beseitigung der Gefahrenlage geeignet sind. Im Einzelfall kann dies die Anordnung von teilweiser oder gänzlicher Nutzungsuntersagung sein, aber auch organisatorische Interimsmaßnahmen, wie beispielsweise die Stellung einer Brandwache oder sofort ausführbare bauliche oder technische Maßnahmen, wie beispielsweise die Beseitigung eines vorhandenen Gitters vor einem Rettungsfenster.
Beispielfälle aus der Praxis
Aufgrund der Schwierigkeiten der juristischen Definition, die noch nicht einmal einheitlich ist, erscheint es daher notwendig, sich an der Kasuistik der vorliegenden Rechtsprechung zu orientieren. Schließlich sind es auch die Gerichte, die im Zweifelsfall eben diese Kriterien anwenden, um den zu beurteilenden Sachverhalt zu entscheiden.
Folgende höchstrichterliche Entscheidungen können in diesem Zusammenhang als relevant angesehen werden:
Gerechtfertigte Nutzungsuntersagung bei dem Fehlen sowohl des ersten, als auch des zweiten Rettungswegs eines Hotels der achtziger Jahre mit 55 Gästebetten, VGH Bayern, Beschluss vom 11.10.2017, Aktenzeichen: 15 CS. 17.1055
Später weggefallene Möglichkeit der Anleiterung durch die Feuerwehr als zweiter Rettungsweg bei einem Dachgeschoss: Nutzungsuntersagung, OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.05.2019, Aktenzeichen: 2S. 18.19
Baufälliges Gebäude mit lockeren Ziegeln, Schäden am Dach und Blechteilen, die herabfallen können: angeordnete Sicherungsmaßnahmen rechtmäßig, VGH Bayern, Beschluss vom 25.03.2019, Aktenzeichen: fünfzehn C 18.2324
Bei gegebener konkreter Gefahr aufgrund Fehlens des zweiten Rettungsweges kann diese nicht alleine durch das bloße Stellen eines Baugerüstes beseitigt werden: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.09.2018, Aktenzeichen: 7B1104/18
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die zuständigen Behörden im Einzelfall stets ermächtigt sind, bei berechtigter Annahme eines konkreten Gefahrensachverhaltes, diejenigen Maßnahmen zu fordern und gegebenenfalls auch unverzüglich durchzusetzen, die notwendig sind, um die Gefahrenlage zum Schutz der betroffenen Personen zu beseitigen, unverzüglich herbeizuführen.